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"Ich bin kein passionierter Tagebuchschreiber. Es muß schon Ungewöhnliches anstehen, das mich in die Pflicht nimmt."
Und so sah sich Günter Grass nach 1969, als er "das Schreibpult verließ", um sich für die SPD im Wahlkampf zu engagieren, und nach seinem halbjährigen Calcutta-Aufenthalt Mitte der 1980er - "Ohne Tagebuch wäre diese Stadt kaum auszuhalten gewesen" - auch ab 1990 in der Pflicht, sein "Unterwegs von Deutschland nach Deutschland" zu notieren.
Gleich vorweg soviel dazu: Der Begriff "Tagebuch" muss sehr weit gefasst werden, weil Grass hierin zwar nahezu täglich etwas aufgeschrieben hat, dabei aber das ihm offenbar allzu Intime ausließ und das für ein Tagebuch typische, insgeheim im Wechsel von Irrtum und Versuch gedankliche Ertasten bestenfalls streifte. Ersteres mag manche enttäuschen, ist aber eine legitime, womöglich gar dankenswerte Entscheidung, letzteres scheint schlicht eine tief verwurzelte Wesenseigenheit von ihm zu sein, die einen noch immer nicht unberührt lässt ...
Auch wenn die geschilderten Stimmungen zwischen heiterer Gelassenheit im Zusammensein mit seiner zahlreichen Nachkommenschaft und depressiven Anwandlungen inkl. Schlaflosigkeit wegen körperlicher Gebrechen wechseln, findet seine Sprache stets sehr diszipliniert zu einer prägnanten Knappheit, die dem von vorneherein antizipierten Publikum auch von vorneherein in aller Kürze Druckreifes widerspiegelt. Ganz offensichtlich ging diesem "Tagebuch" ein inneres Konzept voraus, das es nun in seiner Gesamtheit "wie aus einem Guss" wirken lässt. Wer also einige Werke von Grass kennt, hat mit diesem Tagebuch den Schriftsteller auch gleich samt seiner ihm eigentümlichen Wortwahl und Metaphorik im Innenohr.
Folgende Themenbereiche galt es ihm nun abzuarbeiten bzw. in eine ihm gemäße Verlautbarung zu bringen:
"Unterwegs von Deutschland nach Deutschland" - ein Reisetagebuch, das einerseits die Aufenthalte der seinerzeit diversen Wohnsitze in Portugal, Dänemark, Berlin und Behlendorf, aber nicht zuletzt auch die zahlreichen mit Ortswechseln verbundenen Lesungen, Ausstellungseröffnungen, Tagungen und Kongresse dokumentiert und die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort beschreibt. Damit korrespondiert auch der sehende Bildende Künstler, seinerzeit vor allem Zeichner mit selbstgefertigter Sepiatinte aber auch Kohle- und Bleistift, der seine Beobachtungen in lyrische Metaphern zu münzen weiß, Landschaften, tote und lebende Pflanzen, totes und lebendes Getier zudem immer wieder zwischenbilanziert in einer Vielzahl bearbeiteter Blätter und anderer Werkstoffe.
Dazwischen, wenn schon nicht Intimes, so doch kleine Homestories, bis auf ein, zwei Nebensätze mit dem Gestus des wohlwollenden Patriarchen distanziert und anekdotisch eingestreut. Zum Beispiel wenn er für das Haus in Vale das Eiras, zum oftmals "räuberischen" Pflanzensammler und Löcher aushebenden Gärtner wird. Hierunter fallen natürlich auch die Begegnungen mit seiner Patchwork-Familie, der Grass insbesondere wegen der Kinder Freude und unverhohlenen Stolz abgewinnt, oder die geteilten Leidenschaften und Nöte mit seiner zweiten Ehefrau Ute, deren Mutter in jenem Jahr verstarb.
"Unterwegs von Deutschland nach Deutschland" - vielleicht am besten als ein "Work in progress", das neben den gefertigten Zeichnungen vor allem am Entstehen der Unkenrufe und schon an den ersten Skizzen und Vorüberlegungen zu Ein weites Feld teilhaben lässt. Bemerkenswert auch hier, wie wenig Hin und Her dieses Procedere in Anspruch nimmt, sondern das dazu Notierte nahezu schon jeweils im ersten Anlauf dem Endergebnis vorauseilt.
"Unterwegs von Deutschland nach Deutschland" - als viertes und gewiss nicht Letztes natürlich auch sein Kommentar zu deutsch-deutscher Politik in global-ökologisch-ökonomischen Zusammenhängen und damit zugleich eine sich immer wieder vergewissernde Referenz seines geforderten "Dritten Wegs", dem so schmählich wenig Gehör geschenkt und Folge geleistet wurde. Sein "Siehste", als sich die einstigen DDR-Bürger zu Recht über kapitalistischen Raubbau beschweren, bleibt jedoch ohne zu Ende gedachte Antwort auf die von ihm beschworene Alternative. Denn sein "Dritter Weg" in Form einer Konföderation der beiden einstigen deutschen Staaten hätte doch die Reisefreiheit nicht wieder zurückgenommen und damit jede gutgemeinte, möglichst sozialdemokratische Lenkung zu einem langsameren sich Annähern ad absurdum geführt. Und an den übelsten deutsch-deutschen Geschäften der Anfangsnachwendejahre waren doch stets die schwimmenden Fettaugen beider Staaten beteiligt - was hätte deren Proporz wie verändern wollen? Und wäre das dann auch dem Normalsterblichen zugute gekommen?
Aber interessanter als diese fehlende Konsequenz seines Denkens sind bei Grass die Beobachtungen eines immer deutlicheren Beiseitegeschobenwerdens seiner selbst durch die SPD-Granden. Die Oskars und Björns, denen er immer wieder beharrlich Ratschläge erteilt, streben nicht nach Erkenntnissen, sondern nur nach einem Wahlerfolg und noch nicht einmal das in von ihm gebotener Strategie und Taktik.
In seiner Enttäuschung darüber kommt einem der Autor auf einmal doch sehr nah und kann trotz der diszipliniert kurz gehaltenen Schlaglichter sein tiefgehendes Verletztsein nicht mehr verbergen. Das angekündigte sich den "Grünen" zuwenden und aus der SDP austreten, intoniert Grass dann als Donnergrollen eines Zeus, der noch nicht ahnen will, dass es als unbeachtetes Hundebellen verpuffen könnte. Denn immerhin wird er in diesem Jahr noch auf der von Elie Wiesel angeregten Oslo-Konferenz mit vielen internationalen Teilnehmern ersten Ranges wie Nelson Mandela gehört, wenn auch diese Konferenz nur zu bekunden und nichts zu entscheiden hat - und der einstige Kollege Vaclav Havel ihm nun schon allzu "präsidial" daherkommt.
"Unterwegs von Deutschland nach Deutschland" ist auf seine Weise ein unverfälscht typisches Grass-Buch, das wegen dem, was er hier vorstellt aber auch auslässt, noch einmal bestätigte Liebhaber und Provozierte finden wird. Als nunmehr zweites Werk nach Beim Häuten der Zwiebel wirft es jedoch lediglich nach der Speckseite des gesamtdeutschen Zwanzigerjubiläums und setzt keine neuen An- und Einsichten zu seinem Werk und seiner Person frei - alles andere wäre, wenn schon kein Mauerfall, so doch das offenbar schon lange unmöglich gewordene Abschütteln eines eingewachsenen Korsetts.
Weitere Besprechungen zu Werken von Günter Grass und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Günter Grass